Von Addis Abeba zum Rash Dashan, 4543 m
Aus Äthiopien stammt das Sprichwort: „Die Straße sagt dem Reisenden nicht, was vor ihm liegt!“ Es gehört hier her, in dieses geheimnisvolle Land, das im Mittelalter Reich des Priesterkönigs Yohannes war, das bis heute das unbekannte, christliche Land in den hohen Bergen Afrikas ist, da wo der Nil entspringt.
Ostafrika. Zehntgrößter Staat des Kontinents. Das alte Abessinien. Binnenstaat, seit der Abtrennung Eritreas 1993 ohne Zugang zum Roten Meer. Äthiopien gelang es als einzigem Staat Afrikas, auch im Zeitalter des Kolonialismus unabhängig zu bleiben. Noch immer eines der ärmsten Länder der Welt, ist Äthiopien kein Hungerland mehr, die Zeit der Schreckensbilder zu Gerippen abgemagerter Kinder, der Hungersnöte und Bürgerkriege scheint für die junge Parlamentarische Demokratie überwunden.
1967 veröffentlichten die Beatles das Lied „Lucy in the sky with diamonds“ nach Motiven aus „Alice im Wunderland“. Komponist John Lennon wurde Namensgeber für das bekannteste Skelett der Vormenschen-Art: „Lucy“ bezeichnet das 1974 im Afar-Dreieck im äthiopischen Hochland entdeckte Teilskelett eines als weiblich interpretierten Individuums der Art Australopithecus afarensis. Flaches Gesicht, vorspringendes Kiefer, kräftige Backenzähne. Das 3,2 Millionen Jahre alte Fossil ist die Attraktion der Kapitale.
Addis Abeba, 2400 Meter. Dritthöchst gelegene Hauptstadt der Welt nach La Paz und Mexiko City. Keine schöne, aber eine laute, wilde, extreme Stadt. Zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftshunger. 3,5 Millionen Menschen. Mehr oder weniger, wer vermag sie zu zählen. Addis ist der Marktplatz schlechthin am Horn von Afrika. Nichts was es nicht gibt: Wellblech-Hütten, Dauerstau, Hektik, Eselskarren zwischen Multivans. Chaos überall abseits des stillen Parks, in dem in sich gekehrt das Nationalmuseum hockt und den Reichtum des riesigen Landes verwaltet.
Der Tana-See liegt auf der Höhe von St. Moritz, ist 85 Kilometer breit und erstreckt sich über 3600 Quadratkilometer. Papyrus am Ufer, das zu pharaonischer Zeit den Nil bis nach Ägypten begleitete. Fischer bringen ihre Beute in Papyrus-Booten heim. Es scheint, als würden sich auf dem See verschiedene Jahrhunderte begegnen.
Der Kaffee, der auf Zeghie wächst, wurde von frühen Mönchen angebaut. Kein Äthiopier kann sich Leben ohne Kaffee vorstellen. Ein schmaler Pfad führt zu einer im 17. Jahrhundert gegründeten Klosterfestung, die immer auch Fluchtburg war. Die Mauer soll das Werk von Engeln sein… Denn dass Menschen die gewaltigen Steinquader zusammengefügt haben sollen, erscheint unglaublich.
Der Weg zum „rauchenden Wasser“ führt über die „Portugiesen-Brücke“ aus dem 17. Jahrhundert. Unerschöpfliche Massen stürzen an den Nil-Katarakten von Tis Abbay in die Tiefe, obwohl ein Teil der Fluten ein Kraftwerk speist. 400 Meter breit die Wasserfront, 50 Meter die Fallhöhe. Warum die braun-gelben Wasser „Blauer Nil“ heißen, bleibt eine offene Frage. Der Fluss taucht in eine Schlucht, die er erst an der Grenze zum Sudan wieder verlässt.
Die Zeit der Gondar-Kaiser gilt als wichtigste Periode äthiopischer Geschichte. Am Gemp, dem von mächtiger Mauer umkränzten Stadtpalast, ist die Erlöser-Kirche Schauplatz eines Wunders: Das Gotteshaus hat im 19. Jahrhundert aus dem Sudan kommenden Mahdisten wiederstanden, weil ihr Holz sich nicht entzündete. Die Muttergottes selbst soll ihre Hand im Spiel gehabt haben.
Von Gondar aus zielt die Straße weiter nach Norden, in die Berge. Semiengebirge. Der Nationalpark. Ras Dashan. Ein mächtiger Wächteraffe begrüßt uns. Über 3000 Meter hohe Pässe. Bizarre Bergwelt mit Schluchten und Tafelbergen, steilen Abhängen und – vor allem bei Regenwetter – halsbrecherischen Serpentinen auf lehmigem Untergrund. Zum Glück stehen die Zelte schon, von zuverlässiger Trekking-Mannschaft aufgebaut. Und die Tragtiere warten geduldig, bis es früh am nächsten Morgen losgeht.
Im Semien-Nationalpark wird deutlich, warum Äthiopien „Dach Afrikas“ genannt wird. Viele Gipfel sind Viertausender. Der Ras Dashan streckt sich auf 4543 Meter Höhe. Der Steinbock ist das Wappentier Äthiopiens und der Arabischen Halbinsel. Denn – was kaum jemand weiß, von Axum aus wurde einst Arabien regiert. Und deshalb “lebt“ die Königin von Saba in Äthiopien und im Jemen. Wie ein Symbol steht ein Steinbock an der Abbruchkante.
Rast nach 900 Höhenmetern Aufstieg am Bwahit-Pass, 4200 Meter. Die Bergsteiger vergleichen ihre Höhenmesser-Uhren. Bergführer Bewket lächelt weise: „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit!“
Steinig, lehmig, schmal ist der Abstieg auf der anderen Seite des Passes. 1000 Höhenmeter geht es konzentriert und kraftraubend abwärts. Aber die Pflanzenwelt, die so anders ist als in den Alpen, sorgt für Abwechslung. Wacholder, Baumheide, Riesenlobelien.
Ambiko, das ist unser Basecamp für den Ras Dashan: Wake Up Call um 3.00 Uhr früh! Frühstück mit Porridge und Eiern um 3.30 Uhr im Messezelt. Fröstelnde, unausgeschlafene Menschen irren zwischen Toilettenhaus- und Messezelt hin und her. Aufgeregt tanzende Glühwürmchen unter glitzernder Sternenpracht. Aufbruch um 4.00 Uhr. Vorweg der Bergführer, alle hintereinander. Außer dem Klick-Klack der Stöcke ist nichts zu hören. Zum Reden ist es zu früh.
Beim ersten Tageslicht finden wir uns 400 Höhenmeter über dem Camp in der kargen Welt von Gräsern, Moosen und Flechten. 50 Höhenmeter finale Kletterpartie. Der Fels ist fest. Mit guten Griffen. Bergführer Bewket, kurz BK, kennt alle Tritte, Griffe und Kniffe. Die Ranger achten darauf, dass niemand auf Abwege kommt. Bedürfnislos der Witterung trotzend: zarte Blüten in Felsspalten.
Und dann ist‘s geschafft. Um 10.45 Uhr steht die Gruppe am Gipfel. Sechs dreiviertel Stunden haben wir für den Aufstieg gebraucht. „Eine Superzeit“, lobt BK, und der muss es schließlich wissen. Auch dass es nicht selbstverständlich ist, dass alle vierzehn Frauen und Männer zwischen 20 und 72 das Ziel erreicht haben. Sie stehen auf dem vierthöchsten Einzel-Berg Afrikas nach Kilimandscharo, Mt. Kenya und Ruwenzori; für alle eine bleibende Erinnerung.
Rundkirchen säumen den Weg zu einsam in die gedörrten Berge gestreuten Dörfern. 400 Höhenmeter Aufstieg zum Hochplateau – in sengender afrikanischer Sonne. Der Blick wandert zu immer neuen Kanten und Graten, zu Steilabbrüchen und am Horizont verschwimmenden Feldern. Karmesin, Ocker, Anthrazit. Eukalyptus und Wolfsmilch in palisadenartigen Hecken. Baumlose Weite über silbrig glitzernden Dächern aus bratpfannenheißem Blech.
Terminvereinbarungen sind schwierig: Der Julianische Kalender hinkt unserem Gregorianischen Kalender sieben Jahre und acht Monate hinterher. Er hat zwölf Monate mit 30 Tagen und einen Schaltmonat am Jahresende mit fünf Tagen. Dafür heißt’s aber: „Äthiopien – 13 Monate Sonne!“
Die Altstadt von Axum zählt mit ihren Stelen, Obelisken, königlichen Grabmälern und Palastruinen aus dem 1. Jahrtausend als Herz des alten Äthiopiens und ist UNESCO-Welterbe. Axum war Großmacht, die mit Ägypten, Persien, Indien und Arabien Handel trieb. Der Jemen jenseits des Roten Meeres hat axumitische Vergangenheit.
In einer Kapelle befindet sich die Bundeslade mit den Tafeln der Zehn Gebote, die Moses von Gott selbst erhalten hat. Auch wenn niemand hinein darf und niemand die Bundeslade je gesehen hat, es ist nicht wichtig, ob es sich um ein Faktum handelt oder nur um eine Idee. Bei Glaubensdingen heißt es immer: „Imagine!“
Die Lasta-Berge stehen hinsichtlich landschaftlicher Schönheit dem Semiengebirge in nichts nach. Und kulturell ist Lalibela der „Gipfel“. Zunächst erkunden wir die nordwestliche Kirchengruppe, also das „Irdische Jerusalem“, Felsenkirchen im byzantinischen Stil aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Das „Himmlische Jerusalem“ erwartet uns am Tag darauf, die südöstliche Kirchengruppe. Jede Kirche, aus rötlichem, weichem Tuff gehauen, hat ihren eigenen Charakter und unterscheidet sich in Anlage und Dekoration. Sensationell.
„Es ist mir genug, über diese Denkmäler zu schreiben, denn wahrscheinlich wird mir niemand glauben!“ So notierte der Portugiese Francisco Alvarez im 16. Jahrhundert über Lalibela.
Vor dem Heimflug sollten wir noch auf dem Markt einkaufen und Injera probieren, säuerlich schmeckende, Pfannkuchen artige Fladen, die das Brot ersetzen und gut geeignet sind, sie in scharfe Soßen zu tunken. Gebratenes Huhn, würziges Rindfleischragout…
Wie heißt es in Äthiopien: „Wer nicht reist, der wird immer glauben, dass seine Mutter die beste Köchin ist!“
Christoph Thoma